Hintergrundrauschen als Brei 2.0

Tagesspiegel-Malte-LehmingMalte Lehming hat mit einem Meinungsbeitrag im Tagesspiegel online seine Leserschaft fast zum Schweigen gebracht. Er betrachtet weitgehend neutral den exponentiellen Anstieg der Kommunikation und fragt nach der Konsequenz. Das Denken verkümmert seiner Ansicht nach im digitalen Zeitalter nicht: „Brei bleibt Brei, er trocknet nicht aus, und keiner ersäuft in ihm.“

Sein sehr dicht gewebter Text geht vom „Wörterbrei“ aus, „in den er spuckt“: „Der Brei wird von unsichtbarer Hand langsam umgerührt.“ Wörter, die von ganz unten wieder an die Oberfläche gerührt werden, gelten als „Klassiker“. Malte Lehming reiht Fakten aneinander:

„Ungefähr eine halbe Milliarde Tweets werden täglich gesendet. (…) In wenigen Tagen erzeugen die Menschen heute mehr Daten als vom Beginn der Zivilisation bis zum Jahr 2003. Diese Daten werden auf immer kleineren Trägern gespeichert, die ihrerseits wiederum hochmobil sind. (…) Täglich entsteht eine Bibliothek.“

Das „Ich“ als Erzählerperspektive habe Konjunktur, „vielleicht ist es ein Aufschrei gegen das Versinken im Brei.“ Neben der Zunahme des Geschriebenen wächst auch die Umlaufgeschwindigkeit, hält er fest: „Die unsichtbare Hand, die den Brei verrührt, hat statt eines Kochlöffels längst den Mixer angestellt.“ Diese von vielen Portalbetreibern als „Hintergrundrauschen“ beschriebene Dauerberieselung kontrastiert er mit Ansichten ausgewählter Denker.

Walter Benjamin schrieb 1935 im Exil den berühmten Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Darin hält er bereits fest, dass das Medium, in dem die menschliche Sinneswahrnehmung erfolgt „nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt“ ist. Das heißt, wir schaffen uns eigene Realitäten, die nicht nur virtuell sind.

Das erinnert an das Märchen vom süßen Brei, der weiter- und weiterkocht, weil – ähnlich wie beim Goetheschen Zauberlehrling – der Spruch vergessen wurde, ihm Einhalt zu gebieten. Das ist nicht nur Technologiekritik, sondern auch Kritik am Umgang mit der Technologie, die es einfach macht und nahelegt, die Dinge zu vergessen. Früher galt, dass durch Erzählen Geschichten tradiert wurden. Heute gilt, dass ich nach dem Aufschreiben alles vergessen kann. Es ist ja gespeichert.

Eine ähnliche Wendung nimmt Malte Lehmings Aufsatz, indem er Gertrude Stein zitiert, die aus ihrem Vortrag über „Poesie und Grammatik“ an der Universität von Chicago 1934 ein kleines Buch zum Erzählen machte („Narration“, bewusst sparsam in der Interpunktion).

„Es kommt vor es muss einfach vorkommen dass es mit der Art etwas zu erzählen dahin kommen kann dass sie nichts mehr für den bedeutet der diese Sache erzählt.“

Malte Lehming schließt: „Die Formen des Erzählens verändern sich. Wie sie es immer taten, von Anbeginn der Welt. Doch das Erzählen bleibt, weil wir menschliches Leben ohne Erzählung nicht aushalten würden.“ Im Medium Internet hätten sich viele zu schreien angewöhnt, im Ringen um Aufmerksamkeit. „Wer schreibt, bleibt. Wer schreit und schreibt, bleibt länger.“ Und weiter wird umgerührt.

Redakteure lernen ihre Texte so zu schreiben, dass sie prominent bei Google-News platziert werden. Er nennt ein paar solcher „Aufmerksamkeitserzeugungstricks“ wie Wortwiederholungen, Linkboxen, die richtige Verschlagwortung. Jüngere Kollegen betrachteten ihren ersten Shitstorm als eine Art Initiationsritual. Doch der Autor bleibt seiner Linie treu:

„Gedächtnis, Schrift, Buchdruck, Digitalität, Wörterbrei: Diese zeitliche Abfolge in der Geschichte der Kommunikation lässt sich durchaus wertfrei, also eben nicht kulturpessimistisch betrachten. Wie die Schrift in gewisser Weise Gedächtnis und orale Überlieferung zerstörte, der Buchdruck die Verbreitung auch von Schund förderte, so entstanden andererseits Archive, Bibliotheken, Mikrochips – und das Wissen ums Wort wurde demokratisiert.“

Am Erstaunlichsten jedoch, dass dieses tiefsinnige kulturkritische Stück bisher weitgehend unkommentiert blieb. War der Text vielleicht zu lang, zu wenig web-affin? Oder haben sich die Leser zuletzt am Brei verschluckt? Mir hat er jedenfalls geschmeckt, der Beitrag zum Wandel der Kommunikation. Er beweist mir: Leise Töne werden auch gehört.

24. Juni 2014 von JoergBenner
Kategorien: Mitarbeiter-Wissen, Soziales Netzwerken | Schlagwörter: , , , , , , , , , | Schreibe einen Kommentar

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