Führungsqualität anstelle von Folgsamkeit
Über das Fairplay im Sport wird eine Menge geschrieben und vermutlich noch mehr gesprochen. Dass dies so ist, verdeutlicht bereits, dass dieses Konzept keineswegs selbstverständlich ist, ebenso wenig wie wir im sonstigen Leben eine Moralität unter den Mitmenschen voraussetzen können. Die ist auch im Ultimate Frisbee kein Selbstläufer.
Die Sachlage ist ähnlich wie bei Zeitungsserien, die das mutige Verhalten einzelner hervorheben: Sie hinterlassen den faden Beigeschmack, wie mutlos der Rest der Gesellschaft ist. Ähnlich geht es mir bei der Verleihung von Fairplay-Preisen. Bundesinnenministerium und Deutscher Olympischer Sportbund vergeben jährlich einen „Fair Play Preis des Deutschen Sports“ in mehreren Kategorien. Den hat 2011 auch der Deutsche Frisbeesport-Verband erhalten.
Um die Popularisierung des Fairplay-Gedankens bemühen sich daneben national die „Fair-Play-Initiative im deutschen Sport“ („Fair geht vor“), besonders unterstützt durch die Deutsche Olympische Gesellschaft, und auch das International Fair Play Comitee (CIFP), das unter anderem eine „Fair Play Charter“ für die Jugend aufgesetzt hat. Das CIFP wurde 1963 übrigens von Mitgliedern der UNESCO, des International Committee for Sport Science and Physical Education (ICSSPE), der International Sports Press Association (AIPS) sowie der internationalen Sportverbände für Basketball, Football, Rugby und Wrestling (!) gegründet.
Formelles und informelles Fairplay
Einerseits kennzeichnet Fairplay ein bestimmtes sportliches Verhalten und eine Haltung, die über das Einhalten von Regeln hinausgehen (informelles Fairplay). Andererseits gibt es aber auch wenige Sportarten, in deren Regeln bereits der Fairplay-Gedanke formell enthalten ist. Bei vielen anderen Sportarten ist er in den „Ausführungsbestimmungen“ festgehalten, so mit einem dezidierten Wertekanon im Judo und entsprechenden Regelungen z.B. auch im American Football.
Außer die Wettkampfregeln anzuerkennen und einzuhalten sowie bei gleichen Chancen und unter gleichen Bedingungen anzutreten, geht es auch darum, den Gegner zu respektieren, mit ihm auf Augenhöhe umzugehen und diese Haltung – als eine Denkweise und Überzeugung – im Sieg ebenso wie bei der Niederlage zu bewahren.
Historische Wurzeln der Fairness
Historisch betrachtet taucht das Wort „Fairness“ erstmals 1597 im Historiendrama „König Johann“ von William Shakespeare auf. Im ursprünglichen Sinne hieß „fair“ im Englischen „anständig“, „ordentlich“, was auf einen moralischen Wert hinweist, der in der Gesellschaft einer bestimmten Epoche ausgeprägt wurde. Die deutsche Übersetzung „Anständigkeit“ käme dem Begriff vermutlich am nächsten (demnach ließe sich die Frage „Hast Du keinen Anstand?“ gleichsetzen mit „Bist du unfair?“).
Dennoch hat sich seit dem 17. Jahrhundert gerade Fairness im Sport nach und nach mit einer zusätzlichen Bedeutung aufgeladen und wird beinahe gleichgesetzt mit „Sportlichkeit“. Hierfür besteht der ebenfalls aus dem Englischen bekannte Begriff der „Sportsmanship“. Darüber hinaus hat sich Fairness als Terminus auch in der Entwicklungspolitik eingebürgert, wie im „Fairen Handel“.
Spirit of the Game im Golfsport
Anlässlich der Olympischen Sommerspiele 2012 in London hat Mihir Bose mit dem Buch „Spirit of the Game“ eine globale Geschichte des modernen Sports verfasst. Darin hält er fest, dass sich durch die viktorianische Sportkultur und die Erfindung der modernen Olympischen Spiele durch Baron De Coubertin erstmals die Auffassung herausgebildet hat, dass organisierter Sport eine ethische Dimension und einen praktischen politischen Zweck verfolgt.
Der Begriff „Spirit of the Game“ (der „Geist des Spiels“ oder der „Sinn des Spiels“) stammt aus dem Golfsport und wurde meinen Recherchen zufolge in den erstmals festgehaltenen 13 Regeln des Golfspiels 1744 von den „Gentlemen Golfers of Leith“ verwendet, die 1754 von der St. Andrews Society of Golfers übernommen wurden. Auch darin wird festgehalten, dass die Regeln über „feste, tief verankerte Werte“ verfügen, „unbestechlich“ sind und dennoch als ein zerbrechliches Gut gegen Angriffe von außen geschützt werden müssen.
„Sportsgeist“ als Zielvereinbarung
Auf dieser Basis wurden bis heute 34 Paragrafen ausgefeilt, die fair und ausgewogen die Integrität des Golfspiels bewahren wollen. Noch heute ist der Royal and Ancient Golfclub of St. Andrews (R&A) zusammen mit der United States Golf Association (USGA) dafür verantwortlich die Golfregeln alle vier Jahre zu überarbeiten. Erst im Jahr 2004 wurde darin der berühmte „Spirit of the Game“ definiert, der wahre Geist des Golfspiels , als „das ehrliche Bemühen jedes einzelnen Spielers, Rücksicht auf andere Spieler zu nehmen und nach den Regeln zu spielen“. Zudem sollen sie „sich diszipliniert verhalten und jederzeit Höflichkeit und Sportsgeist erkennen lassen, gleichgültig wie ehrgeizig sie sein mögen.“
Die schon eingangs erwähnte „innere Haltung“ wird hier auf die Probe gestellt, indem es keine externen Schiedsrichter gibt und die Spieler sich daher auf Regelkenntnis und Ehrlichkeit verpflichten. Im Teamsport Ultimate Frisbee, der ebenfalls den Fairplay-Begriff des „Spirit of the Game“ strapaziert, geht es noch stärker darum, sich nicht nur soweit an die Regeln zu halten, wie gerade nötig (um z.B. nicht disqualifiziert zu werden), sondern vielmehr darum, die Regeln möglichst gut zu kennen, um sie selbst zur Anwendung bringen zu können. Das ist eine Zielvereinbarung, die über das bloße Folgen deutlich hinausgeht.
Führungsqualität anstelle von Folgsamkeit
Dennoch gelten für alle Gegenspieler dieselben Bedingungen. Besonders deutlich wird das im ersten Ultimate Regel-Paragrafen, benannt „Spirit of the Game“. Der „Sportsgeist“ oder „Sinn des Spiels“ wird dabei in ein Regelwerk gezwängt, über das er jedoch hinausweist. Der Widerspruch könnte auch lauten (wie schon an anderer Stelle bemerkt): Die Regelkenntnis ist ein Teil des Spirit of the Game, wie umgekehrt auch der SotG ein Teil der Regelkenntnis ist.
Dies erweitert das Aufgabengebiet der Spieler, die neben der eigenen Einhaltung der Regeln damit auch die Verantwortung tragen, das mögliche Fehlverhalten ihrer Gegenspieler zu bemerken und zu „verhandeln“. Dabei stehen die Spieler auf derselben Augenhöhe und klären in einem kurzen Abgleich beider Sichtweisen, wie das Spiel weitergeht (ausführlich an anderer Stelle beschrieben).
Vermittlung eines Wertekanons
Diese konkrete Handlungsebene macht das Regelwerk und somit den Teamsport Ultimate einzigartig. Neben dem Verfahren zur Klärung strittiger Situationen sind auch ganz konkrete Aktionen während des Spiels benannt, die ausdrücklich dem Spirit of the Game entsprechen oder dies nicht tun. Die Ausübenden werden damit zu bewussten Menschen mit Führungsqualität erzogen, anstatt nur Folgsamkeit (so weit wie nötig) zu beweisen und dann dem Schiedsrichter etwas vorzuspielen und ihn zu beknieen.
Ultimate Frisbee ist sicher nicht der einzige Weg, um Fairplay-Verhalten einzuüben. Ich halte ihn jedoch für einen sehr stringenten, der gemäß Regel-Paragraf 1 vor allem die Werte Respekt, Ehrlichkeit und Freude vermitteln soll. Zum Vergleich lautet die Wertesammlung des Internationalen Fairplay-Komitees: „Respekt, Freundschaft, Teamgeist, Fairer Wettbewerb, Respekt vor den geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, Gleichheit, Integrität, Solidarität, Toleranz, Fürsorge und Freude“.
„Vom anderen her denken“
Einem dem Internationalen Fairplay-Komitee der Unesco zugeschriebenen Zitat zufolge lautet eine plausible Auffassung von Fairplay:
„Fair verhält sich derjenige Sportler, der vom anderen her denkt.“
Verdeutlicht wird das durch Punkt 4 der „Fair Play Charter“ (eine Popularversion des Kategorischen Imperativs):
„Ich soll meine Gegenspieler in der gleichen Weise behandeln, wie ich behandelt werden möchte.“
Dies ist besonders in der Praxis der Regelanwendung im Ultimate Frisbee gegeben: Wir haben einander entgegen stehende Intentionen und wollen doch beide das Gleiche, nämlich gewinnen. Dass zur Beurteilung des Fairplay-Verhaltens die Teams sich nicht nur bei Meisterschaftsturnieren gegenseitig „Spirit-Bewertungsbögen“ ausstellen, bezeichne ich mitunter als „Sahnehäubchen“ dieser Konzeption.
Bitte kontaktieren Sie mich, wenn Sie sich für Vorträge, Seminare, Workshops oder Incentives zum Thema einer Kommunikation auf Augenhöhe am Beispiel von Ultimate Frisbee interessieren.
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