Tücken scheinbarer Anonymität
Ein elektronisches Gerät kann mich mit mir alleine lassen. Sobald ich den virtuellen Raum als „meine eigene Welt“ betrachte, besteht die Gefahr, dass ich dafür andere Regeln gelten lasse als im realen Leben. Eine Ipsos-Studie bestätigt jetzt, dass viele junge Deutsche per SMS, Chat oder Mail Dinge sagen, die sie persönlich nicht sagen würden.
Die Frage ist nun, warum äußern sich 43 Prozent der Deutschen bis 35 Jahre in der elektronischen Kommunikation anders als im direkten oder telefonischen Gespräch? Ist es ein Überbleibsel von Höflichkeit, anderen Personen die Wahrheit nicht ins Gesicht zu sagen, aber am E-Device alle Rücksicht abzulegen? Immer noch genau ein Viertel der Deutschen würde sich bei bestimmten Themen eher auf elektronischem Wege als persönlich mitteilen.
Ipsos führt regelmäßig einen sogenannten Socialogue durch, bei dem innerhalb von einer Woche mehr als 18.000 Menschen im Alter zwischen 16 und 64 Jahren weltweit befragt werden, pro Land wenigstens 500, in vielen Ländern jedoch mehr als 1.000. Im Rahmen der Informationen über die Studie wurden keine Gründe für dieses Verhalten genant.
Ich glaube jedoch, dass es sich dabei um den Trugschluss einer gefühlten Anonymität handelt: Ich bin mit meinem Gerät alleine, mitunter darin versunken, ganz gleich ob andere Menschen um mich herum sind, mit denen ich in diesem Moment aber nicht kommuniziere. Vielmehr bewege ich mich (gefühlt) in „meiner eigenen Welt“, in der folglich auch meine eigenen regeln gelten.
Ich vermute, dass bei den heute schon ersten erwachsenen Generationen der „digital natives“ eine andere Selbstwahrnehmung sich einstellt, wenn sie sich vor einem elektronischen Kommunikationsgerät befinden. Selbstverständlich sind nicht nur eine hohe grafische Auflösung und ein exklusiver Surround-Sound (vermutlich per Kopfhörer), sondern auch das permanente Eingeloggtsein und der Zugang zum World Wide Web als virtuelle Enzyklopädie.
Die Kommunikationsregeln, die in diesem Raum gelten, sind vergleichsweise einfach: Ich suche mir die Plattform und die virtuellen Freunde, die mir entsprechen, die meinen Sprachduktus mögen, und fühle mich darin wohl. Schon bei Schülern ab der 5. Klasse ist zu beobachten, dass sie in der Klassengruppe auf WhatsApp den Mund sehr voll nehmen, sich aber im Klassenraum oft nicht trauen, ein Problem zu thematisieren.
Da ist es nur ein schwacher Trost, dass in anderen Ländern die Anzahl der „nur digital Mutigen“ zum Teil noch höher liegt. Im globalen Durchschnitt sind es 54 Prozent der unter 35-Jährigen und 53 Prozent der Nutzer von sozialen Netzwerken, die bevorzugt auf elektronische Kommunikation ausweichen. Spitzenreiter im Ländervergleich sind China und Südkorea (mit jeweils 80 Prozent in dieser Altersgruppe) und Indonesien (76 Prozent). In Europa herrscht dagegen vor allem bei den älteren Nutzern zwischen 50 und 64 Jahren (noch) die Auffassung:
Kommuniziere auch elektronisch nur das, was du auch von Angesicht zu Angesicht sagen würdest.
Nur zehn Prozent dieser Altersgruppe würden sich in Deutschland elektronisch über Dinge äußern, die sie persönlich nicht ansprechen würden. Das hat vielleicht etwas mit Authentizität oder Charakterstärke zu tun. Im Umkehrschluss könnte die These auch lauten: Das digitale Paralleluniversum führt zu einer Werteverschiebung und im schlimmsten Fall zu einem Kommunikationsverhalten, das einer gespaltenen Persönlichkeit entspricht. Menschen, die sich nur auf elektronischem Wege trauen Klartext zu reden, ist Mutlosigkeit im realen Leben zu unterstellen. Statistisch relevante Unterschiede bei den Geschlechtern wurden übrigens nicht festgestellt.
Beobachtest Du an Dir den Zug, auf elektronischem Weg Dinge zu sagen, die Du im persönlichen Gespräch vermeiden würdest?