Alleine vereint anstatt gemeinsam einsam

Die Corona-Krise dauert an, dennoch beginnen einige Menschen in Deutschland dem Ausnahmezustand etwas Positives abzugewinnen. Manche Expert*innen mutmaßen, dass Solidarität künftig eine größere Rolle spielen könnte als der bisher vorherrschende Selbstbezug.

In einem dpa-Feature, unter anderem bei rp-online.de „Entschleunigung und weniger Ego-Denke“, wird Ulrich Reinhardt, der Chef der Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen, zitiert, wonach der Trend zu mehr Entschleunigung im Alltag an Kraft gewinnen könnte:

„Ist diese Krise erst einmal überstanden, werden wir es vielleicht umso mehr zu schätzen wissen, einen warmen Sommertag mit Freunden im Park zu verbringen oder den Abend in einem Restaurant ausklingen zu lassen, anstatt von Highlight zu Highlight zu springen und zu versuchen, nichts zu verpassen.“

Neben diesem psychologischen „Fasten-Effekt“ – Verzicht auf einen Genuss steigert die Vorfreude – sieht Matthias Horx vom Frankfurter Zukunftsinstitut auch den Gemeinsinn an Bedeutung gewinnen. Dafür sprechen unter anderem Verabredungen zum Singen an Fenster und auf Balkonen. Zugleich könnte sich auch der Wert der Solidarität stärken.

Die Zukunft ändert ihre Richtung

In seinem Blogbeitrag unter zukunftsinstitut.de „Im Rausch des Positiven: Die Welt nach Corona“ wendet er die Technik der Rückschau aus der Zukunft an. Er behauptet, die Welt werde danach nicht mehr dieselbe sein, und spricht von einer „Tiefenkrise“ als einem „historischen Moment, in dem die Zukunft ihre Richtung ändert“:

„Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die der Virus erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben Menschen kennengelernt, die wir sonst nie kennengelernt hätten. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde sind näher gerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst. Die gesellschaftliche Höflichkeit, die wir vorher zunehmend vermissten, stieg an.“

Anstatt, dass wir in bedeutungslos gewordenen Beziehungen also „gemeinsam einsam“ wären, könnten wir uns teilweise nun „alleine, doch vereint“ fühlen. Weitere positive Effekte, die Matthias Horx beschreibt:

  • Produktive Nutzung digitaler Techniken für Videokonferenzen und für Tele-Teaching
  • Das Comeback des Telefonierens, eine „neue Kultur“ der Erreichbarkeit und Verbindlichkeit
  • Zeitgewinn zum Spazierengehen und zum Buchlesen, stattdessen Rückgang an „Trivia-Trash“

Neuordnung der sozio-ökonomischen Systeme

Dabei sei die Veränderung sozialer Verhaltensformen entscheidender gewesen als das (in der Rückschau aus der Zukunft ebenfalls erfolgreiche) Finden eines Medikaments zur Erhöhung der Überlebensrate. Im Zuge dessen könne sich das Verhältnis zur Technik ändern, der Hype um und der Glaube an die Technik könne einer Zentrierung auf das Menschliche weichen. Und trotz eines „schwarzen Aprils“ für die Weltwirtschaft bestehe auch die Chance, dass sich die Ökonomie neu ausrichtet, mit ortsnahen Produktionen, neuen Netzwerken und einer Renaissance des Handwerks. Horx bezeichnet den Trend zur Lokalisierung des Globalen als „Glokalisierung“.

Daneben können aktuell zahlreiche interessante Folgen des Umstands beobachtet werden, dass die Menschen auf der ganzen Welt weniger fliegen, weniger Auto fahren, weniger arbeiten, weniger produzieren und weniger Unnötiges konsumieren. Wie unter anderem die Neue Westfälische über „Positive Nebeneffekte des Coronavirus“ schrieb, werden Delfine in Italiens Häfen gesichtet, Fische sind in Venedigs Kanälen sichtbar, manche Kinder sehen in China erstmals in ihrem Leben den blauen Himmel. Und auch das Schließen von Kindergärten und Schulen in Deutschland könnte Familien auf eine neue Weise zusammenbringen. Auch wenn es für viele Eltern eine große Herausforderung bedeutet, könnten Kinder und Jugendliche nun selbstbestimmter handeln und vielleicht auch kreativ werden.

Matthias Horx spricht von dem Gefühl der geglückten Angstüberwindung. In etwa so, wenn die Angst vor dem Zahnarzt durch den überstandenen Besuch einer Euphorie weicht. Beim Coping (dem sich Stellen der Situation) werde Adrenalin durch Dopamin ersetzt. Genau diese Erfahrung würde aktuell viele Menschen angesichts der Corona-Krise machen: aus einem Kontrollverlust erwächst ein Rausch des Positiven. Ob die Neuordnung der sozio-ökonomischen Systeme davon bestimmt wird, bleibt abzuwarten. Wenigstens sind dies jedoch ermutigende Überlegungen!

24. März 2020 von JoergBenner
Kategorien: Soziales Netzwerken, Verantwortung | 1 Kommentar

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