Fairplay im Alltag 16-2016 – Mit der Lüge leben

KStA_geschundene-Elfer-bestrafen_16-04-21Die Zeit schreibt von „einer der formvollendesten Fußballbetrügereien der letzten Zeit“ und von einer „majestätischen Flugeinlage, die ihre ganz eigene Ästethik hatte“. Ich kann nicht nachvollziehen, wer aus dem Millionenpublikum des DFB-Halbfinales Dienstagabend in der ARD eine solche Haltung schön finden kann, selbst als mutmaßlicher Bayern-Fan. Die ethische Dimension dieser Flugshow ist aber erheblich.

Sogar Thomas Müller, der den Strafstoß zum Endstand von 2:0 der Bayern über die Bremer verwandelte, gab zu: „Es war eine Schwalbe. Es gibt keine Entschuldigung dafür. Reinmachen muss ich den Elfmeter trotzdem.“ (Die Zeit thematisiert, gerade Thomas Müller wäre es zuzutrauen, „dem Fußballerzynismus zu widerstehen“.) Im Kölner Stadt-Anzeiger kommentiert Christian Löer in Bezug auf Andi Möllers „Schutzschwalbe“ 1995 (angeblich gesprungen, um dem heran nahenden Verteidiger auszuweichen):

„Weil Möller zugab, aus freien Stücken abgehoben zu sein, wurde er damals zu einer Geldstrafe verurteilt und für zwei Spiele gesperrt. Er ist damit der einzige Bundesliga-Profi, der je für eine Schwalbe bestraft wurde. Arturo Vidal sollte der zweite sein.“

KStA_Schwalben-Mutter_16-04-21Diese Reaktion kann ich sehr gut nachvollziehen. Auch ich empfinde ein solches Verhalten als strafwürdig. Doch ist es jemandem vorzuwerfen, wenn im Profifußball das taktische Foul beim Gegenstoß mit Gelb geahndet, aber doch fast von jedem honoriert wird? Selbst der gegnerische Fan regt sich dabei vielleicht kurz auf, akzeptiert aber das Verhalten, weil es „seine“ Verteidiger genauso tun würden, ja tun müssten.

Entsprechend wird auch Arturo Vidal nicht bestraft werden, weil es eine Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters war, und weil der FC Bayern nach dem Spiel ihm Redeverbot erteilte, damit er nicht in Gefahr gerät, sein Foulspiel zuzugeben. Auch hier gilt nämlich das gesprochene Wort. Die Welt nennt das seine zweite verpasste Chance, für mich ist es der konsequente Schutz des Clubs gegen eine mögliche Strafe.

SOTG_Know-The-RulesHabe ich eben „sein Foulspiel“ geschrieben? Ja, genau das ist es. Er selbst verstößt wissentlich nicht nur gegen die Regeln des Anstands („Du sollst nicht lügen“), sondern auch gegen die Regeln des Spiels (Fairplay). Großartig fand ich bereits während des Spiels, wie Moderator Tom Bartels um Fassung rang: Es wäre eine großartige Geste, wenn Vidal die Schwalbe beim Schiedsrichter gestanden und den Elfmeter hätte zurücknehmen lassen, aber vermutlich zu viel verlangt im Profifußball. Jedenfalls müsse Vidal nun ein schlechtes Gewissen haben, viel Freude an dem Sieg könne er nicht haben.

Auch wenn andere diese Sichtweise vielleicht für unrealistisch oder unprofessionell halten, glaube ich, dass Tom Bartels mit dieser Vermutung goldrichtig liegt. Irgendwann wird dem Chilenen dieses Fehlverhalten leid tun und er wird es sicherlich irgendwann auch einmal reumütig thematisieren (vermutlich erst weit nach seiner Profikarriere). Er kann daran gar nicht vorbei kommen.

SOTG_Be-Fair-MindedDenn es ist ihm ebenso wie allen anderen Beteiligten klar, dass dieses Verhalten falsch ist. Sogar sein Trainer Pep Guardiola hat sich bei Werder Bremen dafür entschuldigt, wie der Spiegel online hervorhebt. Auch Schiedsrichter Tobias Stieler hat sich für die Fehlentscheidung entschuldigt. Da es sich dabei jedoch um eine so genannte Tatsachenentscheidung handelt, wird der Deutsche Fußball-Bund nicht ermitteln. Erfreulich unaufgeregt übrigens die Bremer selbst, die das Vorkommnis als Systemfehler hinnahmen und sich nun auf den Abstiegskampf konzentrieren können, den sie moralisch gestärkt annehmen werden.

Das System des Teamsports mit Schiedsrichter stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist fest etabliert. Es hat jedoch, wie dieser Fall erneut beweist, so seine Tücken. Bei der Suche nach Alternativen kann ich auf den Teamsport Ultimate Frisbee verweisen, der gerade in strittigen Situationen die Eigenverantwortung der Akteure verlangt.

SOTG_Communicate-RespectfullyNur die beiden beteiligten Spieler (in diesem Fall Verteidiger Janek Sternberg und Arturo Vidal) hätten zu entscheiden, war das ein Foul oder nicht? Können sie dann innerhalb von 30 Sekunden sich nicht auf eine Sichtweise einigen, würde beim Ultimate das Sportgerät zur letzten unbestrittenen Station zurückgehen, quasi zum Freistoß von der Position des Zuspiels. Ich bin aber überzeugt, in einer solchen Situation – Sternberg beteuert: „Arturo, ich habe dich doch gar nicht berührt!“ – wäre es dem „Krieger“ Vidal weit schwerer gefallen, mit der Lüge zu leben.

Das Konzept des „Spirit of the Game“ beim Teamsport Ultimate Frisbee betont fünf Hauptpunkte für das eigenverantwortliche Regulieren strittiger Situationen: Regelkenntnis – Respektvolle Kommunikation – Vermeiden von Körperkontakt – Faire Einstellung – Liebe zum Spiel. Bei Interesse an entsprechenden Vorträgen oder Workshops kontaktieren Sie mich bitte.

21. April 2016 von JoergBenner
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