Der Ungewissheit standhalten

Sicher, nicht Vieles ist unumstößlich sicher.

Vor allem, wenn es um unser Verhalten geht, können wir nicht sicher wissen, ob das was wir tun, richtig ist. In Zeiten von Corona haben einerseits Verschwörungstheorien Hochkonjunktur, andererseits grassiert aber auch eine strukturelle Ungewissheit, die unseren Alltag bestimmt. Wie verhalte ich mich angesichts des Corona-Virus richtig?

Im TV-Wissenschaftstalk Wissen hoch 2“ vom 7. Mai 2020 hat sich Gert Scobel mit Corona, Nichtwissen und Handeln auseinandergesetzt. Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht als Studiogast bei den so genannten Hygiene-Demos von einer „entfesselten Pseudo-Skepsis“, die aus Angst, Verzweiflung und Kontrollverlust entsteht. Während Skepsis und Zweifel durchaus etwas Gutes seien, greife dieser Zweifel jedoch kürzer, weil er sich zwar auf den Staat und alle Umstände, nicht aber auf die eigene Person richte. Diese Haltung wird dem Experten zufolge beflügelt durch das „Selbstbestätigungsmilieu“ in den Sozialen Medien, wo ich mich dank funktionierender Algorithmen in meiner sich selbst verstärkenden Meinungsblase befinde.

Auf der anderen Seite sind diese Ängste und Zweifel aber auch Ausdruck einer misslungener Informationspolitik, wobei die viel beschworene Transparenz politischer Entscheidungsfindung nicht an den Stammtischen ankommt. Dabei würde es bei Bildung und Aufklärung insbesondere auch auf Medienbildung ankommen, das heißt zu berücksichtigen, von welcher Quelle stammt welche Aussage. Handelt es sich um Information oder Desinformation? Daneben – betont die Psychologin Christine Kirchhoff im Studio – ist von vordringlicher Wichtigkeit, sich mit der Angst auseinanderzusetzen. Dies erfordere jedoch sowohl Geduld als auch Vertrauen darauf, dass die Beschäftigung mit dem Thema einen Erfolg zeitigt und die Ungewissheit nicht noch verschlimmert.

Umgekehrt ist in der Psychoanalyse genau ein Ziel, Unwissen auszuhalten und sich einzugestehen, dass es Zeit benötigt, mit einer Situation fertig zu werden, zum Teil viel Zeit.

Natürlich wird auch Platons Apologie herangezogen, ein Text aus dem Jahr 385 vor Christus, bei dem es um die Gerichtsverhandlung um Sokrates geht, an dessen Ende er als Unruhestifter zum Tode verurteilt wird. „Ich weiß, dass ich nicht weiß“, ist die berühmte Floskel, die einen Widerspruch in sich bilden kann. Im Gespräch mit Politikern, Dichtern aber auch Handwerkern (damals vermutlich tatsächlich nur Männer) stellte er fest, dass sie alle nur über ein vermeintliches Wissen verfügen, weil sie Vieles für selbstverständlich halten, ohne es jedoch beweisen zu können.

„Wahrscheinlich weiß ja keiner von uns beiden etwas Rechtes; aber dieser glaubt, etwas zu wissen, obwohl er es nicht weiß; ich dagegen weiß zwar auch nichts, glaube aber auch nicht, etwas zu wissen. Um diesen kleinen Unterschied bin ich also offenbar weiser, dass ich eben das, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube.“ (Platon: Apologie, 21d)

Eine Quintessenz könnte lauten: Ein sicheres Wissen ist unter Menschen grundsätzlich nicht zu finden, deshalb können wir von unseren Ansichten nur vorläufig überzeugt sein. Anders gesagt (vergleiche dazu den Wikipedia-Eintrag zu „Ich weiß, dass ich nicht weiß“) besteht Sokrates Weisheit in der „ständigen Bereitschaft, die erkenntnistheoretischen und logischen Grundlagen des menschlichen Wissens über die Tugenden und das Gute zu überprüfen.“

Nur bietet das Corona-Virus eine ausgezeichnete Gelegenheit, sich damit zu beschäftigen, dass wir nur begrenzt wirksam sind. Doch gemäß der eigenen Überzeugung zu handeln, gehört definitiv dazu, und auch, den regelmäßigen Austausch darüber zu suchen (gerade, wenn wir uns nicht vollends sicher sind).

In Sachen Covid-19 ist uns klar, dass uns viele Informationen fehlen. Auch Big Data kann das Problem nicht lösen. Wer zuletzt aufgepasst hat, stellt fest, dass seine Meinung zu wechseln in der Wissenschaft durchaus dazugehört und dass Transparenz nicht immer zu den Stärken der Wissenschaft gehört. Zudem ist angesichts vieler globaler Probleme mehr Interdisziplinarität gefragt.

In einem Beitrag im Kölner Stadt-Anzeiger schreibt Christian Bos „Ungewissheit ist der neue Alltag“. Dabei stellt er eine Verbindung zu Oscar Wilde her, der das Epigramm verfasste: „Das Wesen der Romantik ist die Ungewissheit“. Angesichts der Corona-Krise verweist der Journalist auf den Psychologen Zygmunt Baumann, der von einem Übergang von der „festen“ zur „flüssigen“ Moderne sprach: Feste Strukturen lösen sich auf, ohne jedoch neue, feste Formen anzunehmen:

„Das Leben wird episodenhaft, eine Wanderung im Nebelmeer der Ungewissheit.“

Bei vermeintlichen Gewissheiten handelt es sich demnach nur um „lokale und temporale Anomalien“. Entsprechend formulierte auch der englische Statistiker Dennis Lindley in seinem Buch „Understanding Uncertainty“:

„Du bist dir, zu unterschiedlichen Graden, über alles in der Zukunft ungewiss; große Teile der Vergangenheit sind vor dir verborgen; und über vieles in der Gegenwart fehlen dir die vollständigen Informationen.“

Daher handle es sich bei Ungewissheit immer um ein persönliches Phänomen, um eine zutiefst mir eigene Angelegenheit. Damit umzugehen ist nicht leicht. Das war es noch nie. Doch darüber nachzudenken hilft, die eigenen Grenzen zu erkennen und gegebenenfalls offener für Meinungsvielfalt zu werden.

01. Juni 2020 von JoergBenner
Kategorien: Mitarbeiter-Wissen, Öffentlichkeitsarbeit, Verantwortung | Schreibe einen Kommentar

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