Kardinaltugenden im Frisbeesport
In meinem vorigen Eintrag hatte ich eine „Drehbewegung“ aus dem Wort „Kardinal-Tugend“ (von cardo, lateinisch = Türangel, das worum, sich alles dreht) als Analogie zur Praxis der Selbstregulierung im Frisbeesport herangezogen. Inwieweit kommen aber die aus der Antike gekannten Kardinaltugenden in dieser Praxis zum Ausdruck?
Die wechselhafte Geschichte der vier Kardinal- oder Haupttugenden beginnt beim Dichter Aischylos 467 v. Chr. erwähnt, der sie jedoch bereits als bekannt voraussetzt: Verständigkeit, Gerechtigkeit, Frömigkeit und Tapferkeit. Bei Plato wird die Frömigkeit durch Klugheit ersetzt. Über die Stoiker gelangte diese Systematik in die römische Welt, wo Cicero Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung unterscheidet. Der Begriff der Kardinaltugenden stammt allerdings erst aus dem 4. Jahrhundert n.Chr., als sich Ambrosius von Mailand mit Cicero auseinandersetzte.
Gehen wir von den Begriffen Ciceros aus, die auch Pater Anselm Grün verwendet (vgl. „Alles dreht sich um Werte„), so ergibt sich die einzige Verschiebung gegenüber dem platonischen Begriffsquartett im Wort der Mäßigung gegenüber der Verständigkeit, die jedoch auch schon bei Plato das Maßhalten meinte (Foto: angeblich symbolisiert auch das maltesische Kreuz die vier Kardinaltugenden). Die Gerechtigkeit ist den anderen dreien übergeordnet und sorgt als richtungsgebende Orientierung der Moralität für das gelungene (taugende, sprich tugendhafte) Zusammenspiel der anderen drei. Diese haben eine Stufenordnung, wobei Weisheit oder Klugheit eher das Geistige, Tapferkeit eher die praktische Handlungsebene und Mäßigung eher das Triebhafte und seine Überwindung betreffen.
Bezogen auf die vorgesehene Selbstregulierung beim Ultimate Frisbee erfordert das Eingreifen der hitzig spielenden Akteure auf dem Platz durchaus einige „Tugend“, um die Funktion eines externen, neutralen Schiedsrichters zu übernehmen. Das Teamspiel in Eigenverantwortung lässt sich auffassen als das Einüben eines Auskommens auf Augenhöhe ohne Vorurteile, indem zwei Sichtweisen miteinander abgeglichen werden, ohne eine letztgültige Wahrheit zu konstatieren (im Gegensatz zur so genannten Tatsachenentscheidung von Schiedsrichtern in anderen Sportarten).
Abschließend folgt eine erste Gegenüberstellung der vier Kardinaltugenden mit entsprechenden Verhaltensregeln aus dem Paragrafen 1 des Teamsports Ultimate Frisbee, benannt „Spirit of the Game“. Zusammen mit den drei theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung ergeben die vier Kardinaltugenden übrigens eine Siebenzahl, denen der Katechismus der katholischen Kirche die sieben Todsünden gegenüberstellt. Nur am Rande sei erwähnt, dass die Siebenzahl auch den Teamsport Ultimate Frisbee prägt, durch die Anzahl der Spieler eines Teams auf dem Feld.
Gerechtigkeit – Fassen wir diese als Moralität im Sinne einer zwischenmenschlichen Ausrichtung auf, wonach wir uns um einen gerechten Fortgang des Geschehens bemühen – auch im Sinne des kantischen Imperativs oder der einfachen Forderung, jeden so zu behandeln wie du selbst behandelt werden möchtest – dann ist der Grundgedanke des Selbstregulierens zutiefst der Gerechtigkeit verpflichtet, auch im Sinne eines sich Ausrichtens und sich Auskennens im Leben.
§ 1, Spirit of the Game, 1.1. Ultimate ist ein weitgehend berührungsloser und selbstregulierter Sport. Alle Spieler sind selbst dafür verantwortlich, die Regeln zu befolgen und ihre Einhaltung zu überwachen. Ultimate beruht auf dem Spirit of the Game, der die Verantwortung des Fair Plays jedem Spieler überträgt.
Klugheit – Beide Ansätze der Begriffe Klugheit (kardinal, als situative Handlungsfähigkeit) und Weisheit (komplementär, nicht urteilend, sondern Rat gebend) treffen die Anforderungen im Spiel Ultimate Frisbee. Erstens muss ich der Situation Herr sein und klug handeln. Anschließend muss ich jedoch auch meine Handlung einschätzen können, und zwar gemäß dem mir bekannten Regelwerk. Was die von Anselm Grün übernommene Erläuterung der Weisheit betrifft, so geht es im kurzen Disput mit dem Gegenspieler genau darum, nicht zu beurteilen, was geschehen ist, sondern nur meine Sicht der Dinge darzustellen, ohne diese als alleingültig zu behaupten.
§ 1.3. Spieler sollen sich bei jeder Meinungsverschiedenheit zwischen den Teams der Tatsache bewusst sein, dass sie selbst als Schiedsrichter agieren. Dazu müssen sie: 1.3.1. die Regeln kennen; 1.3.2. fair eingestellt und objektiv sein; 1.3.3. die Wahrheit sagen; 1.3.4. ihren Standpunkt kurz und klar darstellen; 1.3.5. den Gegnern eine vernünftige Chance geben sich zu äußern; 1.3.6. Unstimmigkeiten schnellstmöglich lösen und dabei eine respektvolle Sprache benutzen; (…).
Tapferkeit – Das Verhalten bezieht sich weniger daruf, sich furchtlos einem übermächtig erscheinenden Gegner zu stellen, als vielmehr auf die „Stabilität“ und Standhaftigkeit, was den Bezug auf die gemeinsam vereinbarten Regeln betrifft, denen wir „Treue schwören“ und eine jeweils möglichst regelgetreue Interpretation äußern. Dies bedeutet Verlässlichkeit im Spiel gegen ein anderes Team: Es gelten für beide dieselben Grundlagen durch das Prinzip der Reziprozität.
§ 1.7. Die Mannschaften sind die Bewahrer des Spirit of the Game und müssen daher: 1.7.1. Verantwortung übernehmen, um den eigenen Spielern die Regeln und den Spirit zu vermitteln; 1.7.2. Spieler disziplinieren, die einen schlechten Spirit an den Tag legen; und 1.7.3. anderen Mannschaften konstruktive Ratschläge geben, wie diese ihrerseits ihr Verhalten verbessern können.
Maßhalten – In Betracht kommen alle drei möglichen vom Pater Anselm Grün unterschiedenen Ansätze: die eigene Mitte zu halten (“mensura”), sich zu mäßigen (“temperare”) und zu unterscheiden, nicht alle über einen Kamm zu scheren (“discretio”). Die beiden ersten Aspekte betreffen eher das eigene Verhalten, sprich dabei geht es darum sich an die eigene Nase zu fassen. Der dritte Aspekt betrifft eher die Frage, wie ich mich mit meinem Gegenüber unterhalte. Da ist durchaus ein angepasstes, unterschiedliches Verhalten angezeigt. Dazu nochmals die Unterpunkte des Ultimate-Regelparagrafen 3: Damit Spieler selbst als Schiedsrichter agieren können, müssen sie:
§ 1.3.1. die Regeln kennen; 1.3.2. fair eingestellt und objektiv sein; 1.3.3. die Wahrheit sagen; 1.3.4. ihren Standpunkt kurz und klar darstellen; 1.3.5. den Gegnern eine vernünftige Chance geben sich zu äußern; 1.3.6. Unstimmigkeiten schnellstmöglich lösen und dabei eine respektvolle Sprache benutzen; 1.3.7. ihre Calls das ganze Spiel über in einheitlicher Weise machen; 1.3.8. nur dann einen Call machen, wenn eine Regelverletzung bedeutend genug ist, um möglicherweise einen anderen Ausgang der laufenden Aktion zu verursachen.
Dies ist der erste Entwurf einer Gegenüberstellung. Mich würde interessieren, wie Du das siehst? Hältst Du die Analogie für übertrieben oder für zu weit hergeholt? Oder siehst Du zusätzliche Aspekte, die diesen Zusammenhang weiter vertiefen?