Fairplay im Alltag 46-2016 – Das kleinere Übel
Aus Anlass des 500-jährigen Jubiläums der Reformation hat Deutschlandradio Kultur eine Serie mit 60 Prominenten aufgelegt, die berichten, was ihnen ein Spruch Martin Luthers heute noch bedeutet (auch in Zeitungen wie dem Kölner Stadt-Anzeiger). Luther gilt nicht nur als Gründervater der Evangelischen Kirche, sondern über seine innovative Übersetzung der Bibel hinaus auch als Spracherneuerer. In einem Teil dieser Serie befasst sich Hubertus Heil, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Bundes-SPD, mit einem Satz zum kleineren Übel.
Die Wahl zwischen zwei Übeln hat aktuell nicht nur Bezug zur US-Präsidentschaftswahl 2016, sondern gilt auch allgemein in der Politik ebenso wie im zwischenmenschlichen Bereich. Hubertus Heil setzt die Sentenz in Bezug zur Unterscheidung des Soziologen Max Webers, der von Verantwortungsethik im Gegensatz zu reiner Gesinnungsethik spricht. Diese bestimmt Handlungen einzig aufgrund der konsistenten moralischen Grundlagen ungeachtet ihrer Folgen.
Im Rahmen meiner Verantwortung als Erdenbewohner sollte ich Entscheidungen treffen, die den Schaden für Umwelt, Gesellschaft (und nicht zuletzt für mich selber) so gering wie möglich halten. Aufsehen erregte in dieser Hinsicht das TV-Experiment im Oktober 2016 in der ARD „Terror – Ihr Urteil“. Bei dieser Fiktion wurde ein Kampfflieger der Bundeswehr angeklagt, dass er ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug abschoss und den Tod unschuldiger Zivilisten in Kauf nahm, um den gezielten Absturz auf ein mit Menschen gefülltes Fußballstadion zu verhindern. Obwohl dieses TV-Urteil, ebenso wie bei Theateraufführungen des Stückes mit überwiegender Mehrheit zugunsten dieses Verhaltens ausfällt, ist die Entscheidung keine leichte.
Doch genau solche kniffligen, existenziellen, ja lebensbedrohenden Entscheidungen können uns begegnen und dazu ist es wichtig, genau abzuwägen, ob das vermeintlich sich aufdrängende Verhalten das richtige ist. Ein anderes, lebensnahes Beispiel – aus einem weit weniger existenziellen Bereich – ist die Frage des Schummelns oder des Missachtens von Regeln durch einzelne Mitglieder einer Gruppe. Nehmen wir das Beispiel eines sportlichen Wettbewerbs (etwa ein Staffellauf) unter Kindern.
Wenn ein Kind nun zum Beispiel zu früh losläuft, obwohl es noch nicht „abgeklatscht“ wurde, dann besteht die Entscheidung der oder des Verantwortlichen darin, entweder diese Gruppe genau jetzt zu unterbrechen und zurückzurufen, oder den Wettkampf ungeachtet der Regelverletzung weiterlaufen zu lassen. Denn das vorrangige Ziel ist doch genau, die Kinder in Wallung zu bringen (und das funktioniert bekanntlich mit einem Staffellauf besonders gut).
Es könnte also scheinen, als sei das kleinere Übel, ein Auge zuzudrücken und die sportliche Aktion fortlaufen zu lassen. Duldet die oder der Übungsleitende jedoch das Übertreten einer Regel in der einen Gruppe, werden die Teilnehmenden der anderen Gruppe sich sagen: „Dann spielt es ja auch keine Rolle, wenn ich eine andere Regel missachte“. Das heißt, auf lange Sicht und auch in Hinblick auf die Autorität der oder des Übungsleitenden ist das kleinere Übel auf jeden Fall in der Sache eine harte oder kompromisslose Haltung zu zeigen („zero tolerance“).
Die Notwendigkeit richtige Entscheidungen zu treffen, wird im Teamsport Ultimate Frisbee besonders stark geübt, weil dort keine externen Schiedsrichtenden für die Regulierung strittiger Situationen sorgen, sondern dies in die Zuständigkeit der Spielenden fällt. Das dafür zu Grunde liegende Konzept des „Spirit of the Game“ betont fünf Basiselemente, damit dies gelingt. Gefordert werden Regelkenntnis – Respektvolle Kommunikation – Vermeiden von Körperkontakt (Verzicht auf Gewalt) – eine faire Einstellung – und die Freude am Spiel, die über einem „unbedingten“ Siegeswillen stehen soll. Entscheidend dabei ist die Grundlage einer Vereinbarung auf Gegenseitigkeit, die voraussetzt, dass alle, die sich in diesem Sport betätigen, absichtlich keine Regeln überschreiten wollen.
Das „kleinere Übel“ (und die Verpflichtung der Ultimate-Spielenden) ist dabei ebenfalls jeden vermuteten Regelverstoß anzuzeigen, um daraufhin zuklären, wie die Sicht der oder des Gegenspielenden dazu ist. Anschließend wir die Spielsituation wieder so hergestellt, als habe es die Unterbrechung nicht gegeben. Schlimmer wäre es eine Regelverletzung aus welchen gründen auch immer laufen zu lassen, weil dies der Person, die vielleicht wirklich eine Regel verletzt hat, signalisieren würde, „es kommt nicht darauf an“. Doch genau das tut es. In Jeder Situation. Immer.
Das heißt, deine Meinung zu sagen ist stes das kleinere Übel als zu schweigen. Auch wenn sie sich anschließend als falsch herausstellen sollte. Bei Interesse an entsprechenden Vorträgen oder Workshops kontaktieren Sie mich bitte.