Weit geschlossene Augen

Im Silbermond-Lied „Langsam“ aus dem Album „Leichtes Gepäck“ kommt der Begriff „weit geschlossener Augen“ vor. Dieser Terminus ist auch der Titel eines kontrovers diskutierten Films von Stanley Kubrick: „Eyes wide shut“. Was hat es mit diesem Oxymoron, einem sich widersprechendes Begriffspaar auf sich?

Andere bekannte Oxymorone sind „Alte Neuigkeiten“, „Stummer Schrei“, „hübsch hässlich“, „ernsthaft lustig“, und andere mehr. Der Film „Eyes wide shut“ bezieht sich auf die „Traumnovelle“ aus dem Jahr 1926 von Arthur Schnitzler, der sich beeindruckt zeigte von der Psychoanalyse Sigmund Freuds. Halten wir der Einfachheit halber fest, dass es in dem Film um einen traumartigen Zustand geht.

In dem Musikstück von Silbermond kommt die Zeile „Mit weit geschlossenen Augen“ in einem Übergangsteil des Liedes vor, das nach dem zweiten Refrain einen Höhepunkt darstellt, indem es zum doppelten Refrain und zum Ausklang des Liedes überleitet. Der kurze Teil ist von einem Staccato-Rhythmus begleitet und wird textlich fortgeführt „und deine Hand in meiner / drehen wir uns zurück auf Anfang / Langsam“.

Das Lied selbst beschreibt eine Situation des Verliebtseins nach einer Liebesnacht, „Ich will noch nicht gehen, doch das Licht kommt schon durchs Fenster“. Die Stimmung ist von einem unwirklichen Zeitempfinden geprägt „hier im verkehrten Zeitraffer / wie du mich küsst / in Zeitlupe küsst“ (…). Was besagt in diesem Zusammenhang nun „weit geschlossene Augen“? Interessant ist auch, dass mehrere Songtext-Portal genau diese Textstelle falsch wiedergeben, etwa mit „bei geschlossenen Augen“. Damit verpassen sie gewissermaßen das Beste oder bringen sich um eine wesentliche Pointe des Liedes.

Die Augen stehen allgemein für die Wahrnehmung, und zwar für die analysierende, den Raum dreidimensional einordnende, analytisch „zerschneidende“ Wahrnehmung. Indem die Augen geschlossen werden, ist zwar das Sehen mit den Augen verhindert. Doch wie Blinde durch Tasten und durch Hören sich ein Bild ihrer Umgebung erschaffen, erfahren auch Verliebte durch geschärfte Wahrnehmung der anderen Sinne (Tasten, Riechen, Schmecken, Hören) ein anderes Bild ihrer Gegenwart.

Nicht umsonst wird Verliebten eine „rosarote Brille“ nachgesagt oder ein „milderer“ oder wohlwollender Blick auf ihre Realität. Gleichzeitig gewährt uns das Verliebtsein einen Blick hinter die Maske des öffentlich sich präsentierenden Menschen, wie es im biblischen Kontext auch heißt im Liebesakt einen anderen Menschen zu „erkennen“. Dabei schwingt auch eine magische Komponente des sexuellen Akts hinein. Mir fällt dabei auch das Bild von Jack Sparrow, verkörpert von Johnny Depp im Blockbuster „Pirates of the Carribean“ ein, wie auf den Augenlidern geöffnete Augen aufgemalt sind.

„Weit geschlossene Augen“ bedeutet somit eine Öffnung der Sinne auf Kosten des die offenbare Realität durchdringenden Blicks. Indem ich meine Augen schließe, begebe ich mich auch „blindlings“, in diesem Fall jedoch vertrauensvoll in die Obhut meiner Begleitung. Ich lasse mich fallen, wie es im englischen Begriff des Sich-Verliebens „to fall in love“ zur Sprache kommt. Nach Joachim Ernst Behrens steht der analytische Blick für das typisch Männliche, als voneinander Trennendes, Einordnendes, wohingegen vor allem das Hören für das Zusammendenkende, ganzheitlich Weibliche steht.

„Weit geschlossene Augen“ im Song „Langsam“ von Silbermond erschließt sich mir somit als ein Appell zu Vertrauen und zu Zeitvergessenheit: „und dann drehen wir uns langsam / gegen die Uhren der Zeit“ und: „denn wir wissen die Welt / holt uns schnell genug ein“. Wir sollen uns Zeit lassen, unsere Gefühle zu genießen, ihnen nachzugehen, sie zu erfassen und als ein existenziell wichtiges Gut in unserem Leben zu erkennen. Die Liebe erweist sich damit als ein metaphysisches Phänomen, bei dem die Zeit nicht stehen bleiben kann, sondern wobei wir uns au0erhalb der Zeit bewegen, so wie wir eine neue Sichtweise erlangen, indem wir unsere Augen weit schließen.

25. August 2019 von JoergBenner
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